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Album der Woche: Tocotronic – Die Unendlichkeit (Kritik)

Das Format Autobiographie hat in den vergangenen Jahren gelitten. Früher umweht von einer Kombination aus zusätzlicher Legendenbildung ohnehin schon mythenumrankter Gestalten und der gleichzeitigen Illusion von Intimität, haben verschiedene Phänomene der Popkultur (Vlogs, Reality TV und nicht zuletzt die durch das Internet tendenziell demokratisierte Pop-Musik) durch ihre vermeintliche Unmittelbarkeit nicht nur das schwerfällige, retrospektive Format medial überholt, sondern auch die Vorstellung, jemandem durch derartige Texte nahe kommen zu können, als schlichte Lüge enttarnt. Kurz: Das eigene Leben zu resümieren ist 2018 ein undankbares Sujet und damit vielleicht exakt das Richtige für Tocotronic, bei denen man vor lauter diskursiver Ausdeutung in den vergangenen 15 Jahren gerne mal vergessen hat, dass es sich hier eben auch um eine Bande findiger Trickster handelt, die sich für keine Finte zu schade sind.

„Die Unendlichkeit“ widersteht folglich vielen Versuchungen: Eine stumpf-naturalistische Nacherzählung dürfte von Anfang an ausgeschlossen gewesen sein, klassische Rockstarthemen werden lediglich oberflächlich betrachtet gestreift und auch die moderne, oft eher vermeintlich clevere anachronistische Erzählung haben Tocotronic vermieden. Stattdessen bietet das Album einen soliden, zeitlich sortierten Kern, bei dem sich nicht nur Form und Inhalt ergänzen, sondern der vorne und hinten von Songs flankiert wird, die potentiell eindeutige Situationen dann doch wieder vernebeln. Besonders schön gelingt der zunächst dubbige, dann jedoch dröhnend-krachende, eröffnende Titeltrack, der möglicherweise die Bedeutung des eigenen Lebens relativiert, vielleicht auch den stets drohenden Tod metaphysisch überformt, vielleicht aber auch einfach mal wieder rockistische Selbstüberschätzungen überspannen möchte.

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Danach läuft Dirk von Lotzows Leben am Ohr des Hörers vorbei, mit durchaus interessanter Gewichtung: Kindheit und Jugend nehmen fünf von zwölf Songs ein, behandeln recht klar erkennbare Motive und benennen unumwunden bestimmte Punkte und Zustände in der Pop- (Rockjournalisten aufgepasst: „Teenage Riot im Reihenhaus“ aus dem Song „Electric Guitar“ taugt als Überschrift für jeden Artikel über die nächste mittelständische Indierockband) und Band-Vor-Geschichte. Kaum überschreitet die Erzählung jedoch das Jahr 1993, schlägt der Ton um: Wurden zuvor noch größere Zeiträume greifbar gemacht, wird das Erzählen nun zunehmend anekdotisch, greift mit dem frühen Tod eines engen Freundes und der einer einst knapp umschifften Alkoholsucht von Lowtzows auf auf früheren Alben bereits verarbeitete Themen auf und bietet dem Hörer damit potentiell nostalgische Erinnerungsmomente.

Verorten lässt sich „Die Unendlichkeit“ jedoch nicht nur auf diesem Weg in der bisherigen Diskogrpahie: Stattdessen setzt sich hier die Beschäftigung mit dem eigenen Alter fort, die das betont bildungsbürgerlich-arriviert-getextete „Schall & Wahn“ implizit anstieß, das körperbetonte (und mit den Worten „Hey hey hey/Ich bin jetzt alt/hey hey hey/Bald bin ich kalt“ startende) „Wie wir leben wollen“ ausformulierte und schließlich das um die Liebe kreisende rote Album mit Songs wie „Die Erwachsenen“ ins absolute Gegenteil kippen ließ. Angelegt war dort mit Songs wie „Jungfernfahrt“ und „Date mit Dirk“ außerdem die autobiographische Retrospektive, die nun flächendeckend durchgeführt wird und nicht mehr einzelne Punkte beleuchtet, sondern eben diese verbindet.

Lässt sich der erzählerische Schwerpunkt, der in der Prä-Tocotronic-Zeit gesetzt wird, also auch als Konsequenz einer auf dem roten Album begonnenen Strategie verstehen, sind die narrativen Mittel keineswegs auf die inhaltliche Komponente der Texte beschränkt. Auch formal und gerade in der musikalischen Umsetzung spiegelt sich die jeweilige Zeit ebenso wieder wie das jeweilige Thema des Songs. Das führt nicht nur zu einer Verschränkung aller Bestandteile des Albums, sondern sorgt vor allem dafür, dass „Die Unendlichkeit“ sich einer sehr breiten Stil-Palette bedient, vom kindlich-naiven 60er-Pop auf „Tapfer und grausam“ über das knackig-rumpelige „Hey Du“ bis hin zum Avant-Pop des eindringlichen „Unwiederbringlich“.

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Potentiell ist in diesem bunten Strauß also für Freunde vieler Tocotronic-Phasen etwas dabei, auch wenn es sich hier natürlich nicht um bloße Imitationen handelt. Wenn Rick McPhail mit seiner Gitarre gerade in der ersten Hälfte heult, dröhnt, prescht und rhythmisiert, klingt das weder nach „Digital ist besser“ noch wie eine exakte Kopie der möglichen Vorlagen von Glam Rock bis Hardcore, sondern gerade durch das Zusammenspiel mit von Lowtzows über die Jahre herausgebildetem, sehr prononciertem Gesangsstil wie eine Erinnerung an die Vergangenheit. Blass wirkt das zu keiner Zeit, sondern eben im Gegenteil besonders charakteristisch, was auch für die teils weit auseinanderliegenden, aber immer stringent verknüpften Stücke gilt.

Damit grenzt sich „Die Unendlichkeit“ auch vom thematisch wie stilistisch geschlossenen, gerade in diesem Ansatz jedoch experimentellen Vorgänger ab und zeigt wieder meisterwerkliche Anmutungen. Gerade das an die 80er angelehnte „Electric Guitar“, das sorgsam instrumentierte „Unwiederbringlich“ und das treibend-melancholische „Bis uns das Licht vertreibt“ sind in ihrer Klarheit bei gleichzeitiger Wahrung des irgedwo in Berlin entwickelten technischen Anspruchs absolut faszinierend. Erst ganz am Ende bröckelt die Klarheit wieder: Mit „Ich würd’s dir sagen“ und „Mein Morgen“ blicken gleich zwei Stücke in die ungewisse Zukunft, bevor sich die Band mit „Alles, was ich immer wollte, war alles“ doch wieder an das Publikum richtet, das sich zuvor in die persönlichen, zugleich jedoch an entscheidenden Stellen vage gehaltenen Stücke wohlig einschreiben durfte.

Die Möglichkeit der Lüge und der Übertreibung deutet bereits das Titelstück an, „Alles, was ich immer wollte, war alles“ fügt auch Selbstauslöschung als optionale Strategie, um mit der eigenen Vergangenheit umzugehen, hinzu. Ganz ohne Metaebene geht also auch eine Autobiographie bei Tocotronic nicht über die Bühne, doch vielleicht ist gerade das am Ende die größte Qualität der Platte: Der Trick, intim und distanziert im gleichen Moment zu sein, sich nicht für Gefühl oder Theorie entscheiden zu müssen, sondern dem Hörer – je nach Wunsch – beides zu offerieren.

„Die Unendlichkeit“ erscheint am 26.01. via Universal auf Vinyl, CD und digital. Credit Fotografie: Michael Petersohn.

Sebastian
Sebastian
Aus Saarbrücken, in Münster, immer auf Testspiel, manchmal auch hier: http://mordopolus.tumblr.com/

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