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Zeit für den Soundchez! – Nouvelle Prague 2018

Nachdem wir uns im Oktober das große Spektakel Music & Media in Finnland angesehen haben, war Prag das nächste große Interrailziel für diesen Monat. Tagsüber Diskussionsrunden mit polarisierenden Titeln, abends Konzerte in pulsierenden Clubs: Julian Gerhard sammelte für Testspiel Eindrücke mitten aus dem Wirbel tschechischer Popkultur.

Van-Halen-Pathos mit Lebrock © Andrea Röell

Auf einem kleinen Spaziergang durch Smichov, wo morgen der Musikkongress Nouvelle Prague in der historischen Staropramen Brauerei eröffnet werden soll, konnte ich einige Produkte für einen angenehmen Abend vor dem tschechischen Fernsehprogramm erwerben. Darunter auch landeseigene Überraschungseier mit dem kleinen Maulwurf (!). Paralysiert von der damit verbundenen Spannung, springe ich in einen bereits bereitstehenden Fahrstuhl – aufwärts bitte. Doch zwischen Stockwerk zwei und drei passiert irgendwie nicht viel. Nein, gar nichts mehr. Mir fällt auf, dass dieses Transportmittel ungewöhnlich eng ist. Ich drücke den gelben Knopf mit der Glocke. Über einen Lautsprecher höre ich, dass irgendwo angerufen“¦ und direkt wieder aufgelegt wird. Einfach noch einmal versuchen. Erst ausgedehntes Tuten in längeren Abständen, dann kurze knackige Töne in knappen Intervallen. Tja“¦ dann… vielleicht noch einmal?

Ein Telefonat mit der Rezeption: das ist doch die Idee! Im kleinen Batteriesymbol auf dem Handydisplay ist mit viel Mühe ein zarter roter Strich zu erkennen: 8%. Feuchte Hände. In welchem Hotel dieser Kette bin ich denn eigentlich genau? Google schlägt mir Pauschalreisen vor. Auf einmal dann alles Licht aus. Bei Absturzgefahr hinlegen oder wie war das? Muss ich jetzt echt um Hilfe rufen? Wie“¦ unangenehm. Was das wohl auch an Sauerstoff verbraucht.

Nach einem kurzem Flackern ist es wieder hell und die Fahrt setzt sich butterweich wieder zurück in Richtung Erdgeschoss fort. Die eisernen Türen öffnen sich elegant, als sei nie etwas gewesen. Im Stechschritt dann direkt zum armen Pagen: „Hello! I stocked in your elevator!“; „You stuck? Where?“; „I stucked! I am back, but I stucked in that elevator.“; „I am sorry. But now it should work again.“; „No, no, no! I really would prefer to take your steps, where are they?“; „There are only emergency stairs in case of fire. But I can join your ride – in which floor do you stay?“.

Nachdem ich in der Fünf ausgestiegen bin, stoppe ich mit einem Fuß die sich schließen wollenden Türen und erkunde mich konspirativ, ob das hier häufiger passiert. Wenn ich in Zukunft mit den Fahrstühlen links und rechts vom Problemlift vorlieb nehmen würde, sollte bei meinem weiteren Aufenthalt alles glatt gehen. Ehrenmann!

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How NOT to die of hunger in music industry

Nein, die Musikindustrie steckt derzeit nicht auf ihrem Weg nach oben fest, sie ist vielmehr im Sturzflug katastrophal im Untergeschoss aufgeschlagen. Ihr Herzstück – der sogenannte „Tonträger“ – ist obsolet geworden. Deutlich wird auch bei Nouvelle Prague: Man hängt sich an alles, was rund um die verbrannte Erde übrig gelassen wurde. So spricht man viel über ulkige VIP-Gimmicks im Konzertgewerbe, darüber, was sich noch so aus dem medialen Lizenzierungsgeschäft herausschlagen lässt und vor allem über bedruckte Textilien.

Die Königsklasse bilden beim letzten Punkt diejenigen Bands, derer Namen und Artworks sich nahezu vollständig von ihrer Musik gelöst haben. AC/DC-Shirts bei Aldi, Nirvana-Hoodies bei H&M, Verwaschenheit simulierende Stones-Tanktops bei Primark. Wenn die Musik nicht mehr im Weg steht, sind die Einnahmemöglichkeiten unendlich. Verwerflich? Im Prinzip spiegelt eine solche Entwicklung vor allem wieder, dass der Mythos um Rock an jeglicher Schärfe verloren hat. Ein Verweis auf einen alternativen Lebensstil, auf ein „Ich bin nicht einverstanden“, bedeutet ein Ramones-Logo auf der Brust zu tragen schon lange nicht mehr.

Festzuhalten sei aber auch, wie bescheuert diejenigen sind, die jedem Teenager, der das von Kurt Cobain kreierte Smiley-Face durch die Weltgeschichte trägt, unterstellen, er verstünde nichts von Grunge, da er zu „jung“ sei. Demzufolge würde der Musiker mit seiner Generation aussterben. Jedoch: Elvis lebt!

Aber die Wahrheit ist eben auch: Das Baby im Slayer-Strampler kennt noch nicht einmal „Raining Blood“. Wie auch immer man es bewerten mag: Die Möglichkeit von inflationärer Vervielfältigung in der Kunst führte stets zum Entziehen von ursprünglichen Werten. Wem ist noch der Impact bewusst, den die Vorlage für das beim Möbeldiscounter angebotene Poster von van Goghs angewelkten Sonnenblumen einst hatte? Aber van Gogh bedeutet nicht mehr Gegenwelt und neue Perspektiven, sondern Allgemeingut. Einfach hübsch anzusehen! So auch scheint sich die Geschichte von Iron Maiden, Led Zeppelin und Black Sabbath fortzusetzen.

Wenn alles allen gehört, lässt sich das Verwässern, das neu- oder besser „nichtinterpretieren“ einst rebellischer Symbolik schwer aufhalten. Der äußerst bittere Beigeschmack heute ist weniger die unendliche Reproduzierbarkeit in allen erdenklichen Facetten und Qualitätsstufen, sondern der Sieg der Supermarkt-Monopolisten über die zur Trademark degradierten Dinosaurier des Musikbusiness.

What does the future hold?

Bereits in der Eröffnungsrede von Karel Barták wurde das Augenmerk vor allem auf zukünftige Fördermöglichkeiten der Musikbranche durch EU-Subventionen gelegt. Rein gar nichts ist daran auszusetzen, schließlich führt die populäre Musik was dies betrifft seit jeher eine Schattenexistenz. Keine andere Kunstsparte wird in dieser Beziehung ähnlich stiefmütterlich behandelt. Und beim Verwenden des Begriffs „Kunstsparte“ geht es schon los: Gibt es tatsächlich einen gemeinsamen Nenner? Und wer entscheidet am Ende darüber, welche Mittel wohin fließen? Punk-Support durch Vater Staat? Von Wegen Lisbeth im Schloss Bellevue?

Tom Liwa singt „Ich weiß, dass jede helfende Hand immer auch einen Schatten wirft“, womit alle Bedenken auf zauberhafte Weise auf den Punkt gebracht sein sollten.

Im großen Zukunfts-Panel werden bei Nouvelle Prag, neben schwindelerregenden Einblicken in die Welt der Streaming-Logarithmen, auch Datenträger vorgestellt, die in Schuhsolen eingearbeitet werden. Hierauf können zum Beispiel Ticketinformationen gespeichert werden, als Gast braucht man nur noch über eine spezielle Matte zu laufen – dadurch könnten Veranstalter Einlassprozesse verkürzen.

Merke: Kleidung ist definitiv der neue Hoffnungsträger auf dem Trümmerfeld der Musikindustrie.

Sane on the Scene

Auch das Thema Gesundheit erhält Aufmerksamkeit. So wird über Panikattacken, Burn-out-Symptomen und die generelle Unzufriedenheit über bestehende Verhältnisse des Gewerbes berichtet.

Selbstredend darf dies kein Randthema sein, jedoch ist es schwer nachzuvollziehen, dass man wieder und wieder von Menschen aus der Kreativbranche hört, die sich kaputt arbeiten bei gleichzeitiger Nichtvergütung. Sicher haben vor allem Selbstständige Erfahrungen damit gemacht, sich verarscht zu fühlen oder gar ganz offensichtlich über den Tisch gezogen worden zu sein.

Dass der Vorschlag, seine Mails nicht direkt nach dem Aufwachen zu checken, ernsthaft optimistisches Kopfnicken im Publikum auslöste, ist bezeichnend. Wow, da muss man erst einmal drauf kommen…

Arbeiten die Menschen heute so viel mehr? War das Leben im 18., 19. oder 20. Jahrhundert denn erholsamer? Generiert sich der Stress und das Gefühl von Unstabilität nicht eher aus der immer weiter vorantreibenden Vermischung von Arbeit und Privatem?

Nicht unschuldig mögen auch die Versuchungen sein, immer wieder neue Aufträge mit neuen Partnern realisieren zu wollen, um nach langer Stagnation den Karriereschritt nach vorne zu machen. Das man sich bei so einer Strategie am Ende eher rückwärts bewegt, hängt damit zusammen, dass man aufgrund akuter Überforderung keinem der Auftraggeber mehr gerecht wird.

Die Stärke „Nein“ zu sagen und nicht völlig aufgestachelt überall mitmischen zu wollen, entfaltet in jedem Fall heilende Kräfte. Und für Passionprojekte nicht bezahlt zu werden“¦ So lief das auch schon zu Zeiten von Aischylos.

Wer die Verhältnisse ändern will, muss nun einmal bei sich selbst anfangen – das gilt wohl für jede Branche.

Immer ist es eine Entscheidung: In Prag kostet ein Bier im Club genauso viel wie ein herrliches Glas Mineralwasser – nur du selbst kannst wählen wie der Abend weiterläuft.

Hocus-Focus

Mit diesen drei Bands sollte sich jeder, dem zum Thema tschechische Indiekultur bislang nur Karel Gott einfällt, dringend befassen:

NOISY POTS

Das Duo ist nicht nur Hot-Chip-kompatibel, sondern live auch noch wesentlich interessanter anzusehen. Ein Drumset aus Plastikeimern, scharfkantigen Metallplatten und blumenbemusterten Suppentöpfen mag zunächst einen unangenehm hippiesken Eindruck erwecken. Daraus erschloss sich jedoch der mit Abstand schickste Clubsound des Festivals. Sympathisch! Außerdem geht die Nominierung für Prags goldene Stimme der Zukunft ganz eindeutig an die Klappertöpfe.

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PILOT SEASON

In einer Art WG-Zimmer im Keller der Bar Coming Soon spielten sie in abgespeckter Variante ein Akustikset zu zweit. Mid-90s-Emo vom allerfeinsten: Die wohl letzte originäre Form von Rockmusik, bevor ihr Schwerpunkt sich hin zum Referenziellen verlagerte. Zunächst einmal sollte festgehalten werden, dass Pilot Season nicht reproduzieren, sondern das Genre mit eigenem Kompositionsgeschick aufleben lassen. Der Clou ist hierbei mit den bewährten Parametern einer vermeintlich historischen Musikgattung zu arbeiten, ihr Potential voll auszuschöpfen, neu anzuordnen und dabei in die Gegenwart zu überführen. Dass ausgerechnet in Tschechien das Feuer dieser uramerikanischen Musikgattung neu entfacht wurde: merkwürdig. Aber irgendwie auch schon wieder geil.

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ACUTE DOSE

Selten solch eine merkwürdige Rockshow gesehen. Dilettantische aus Ersatzteilen zusammengeschraubte Lyrics („Ready for fishing“) bei gleichzeitigem spielerischem Hang zur Virtuosität. Anstatt mit ihren komplexen Gitarrensolos oder Tempiwechsel zu kokettieren, performen Acute Dose wie ausgemachte Dorftrottel. Meine These, dass sie in ihrer Musik das Wesen von Bands wie Can aufgreifen, die Umsetzung aber ins Humoreske umkehren und so das an vielen prominenten Kraut- und Prog-Rock-Protagonisten haftende sich so furchtbar ernst nehmende Mackertum abstreifen, um damit einen Gegenentwurf von historisch-progressivem Rock feilzubieten, konnte mir der Leadgitarrist der Band während unseres Smalltalks an der Clubgarderobe so nicht bestätigen. Can findet er toll, den Vergleich aber etwas abgehoben. Mir wiederum ist die ganze Can-Exegese zu abgehoben und ich denke, dass Acut Dose – freiwillig oder unfreiwillig – zumindest live auf die Peinlichkeit von selbstgerechten Männerbands verweisen und damit Rockmusik etwas eigentümlich Interessanten beizusteuern haben. Acute Dose haben jedenfalls Humor – wer denkt, dass dies bedeutet, dass sie Rockmusik nicht ernst nehmen ist am Ende der wahre Dorftrottel.

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Eurosonic 2019

Tschechien und die Slowakai werden beim kommenden Eurosonic-Festival – dem wohl bedeutendste Event für europäische Popmusik – im Fokus stehen! Gut so.

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