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Album der Woche: St. Vincent – Masseduction (Kritik)

Die Prämisse von „Masseduction“ ist eine, die man auch erstmal verkaufen können muss: Dem Promomythos nach handelt es sich hierbei zugleich um Annie Clarks persönlichstes Album, zugleich schreit hier jedoch alles Pop, Oberfläche, Künstlichkeit, von der Optik aller bisher veröffentlichten Materialien über die Ausgestaltung der Pressetermine bis hin zu den Plastikbeats, die als wichtigste Tragfläche der hier präsentierten Musik fungieren. Doch der Köder war vermutlich zu lecker, um nicht zuzuschnappen: Clark, bislang vor allem als posthumanes, von Artrock-Alben entgegenstarrendes Wesen unter dem Namen St. Vincent aufgefallen, sollte auf dieser Platte nun also ihre gescheiterte Beziehung zu Cara Delevingne aufarbeiten – ein Thema, das Indie- und Hochglanzmagazine gleichermaßen interessiert und natürlich direkt den gesamten Referenzkatalog von „Blood On The Tracks“ bis „808s And Heartbreak“ öffnet, den jeder findige Musikjournalist stets für eben solche Fälle griffbereit hat.

Doch wir sprechen hier von Annie Clark der es schließlich auch gelang, zu Beginn ihrer Karriere aus der stets um Authentizität bemühten Singer/Songwriterszene rasch in Richtung Artrock zu wechseln, eben weil sie so viel lieber mit Masken und Rollen als Gefühlen und Akustikgitarren spielte. Eben dieser spielerische Charakter ist es dann auch, der „Masseduction“ bei der Schwere mancher Themen und Sounds auszeichnet und ihn direkt an seinen Vorgänger anschlussfähig macht. Der wirre Flirt mit Chartmusik geht weiter, hier noch viel greifbarer durch die andauernde Nutzung markanter, synthetischer Beats, die leicht in Richtung 80er nicken, aber vor allem an die Art erinnern, wie Trent Reznor auf „Hesitation Marks“ mit dieser spezifischen Dekade und ihrem Popverständnis umging.

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Der damit einhergehende Biss harmoniert wiederum wundervoll mit der Themenwahl: Clark attackiert mit Vorliebe den Umgang der Gesellschaft mit dem Alter, Sexualität und Medikamenten – keine schlechte Wahl in einem Jahr, dessen meistzitierte Hookline vermutlich die Worte „Percocets, molly, Percocets/Percocets, molly, Percocets“ sind. Gekontert wird mit Hits wie „Los Ageless“, das gegen Ende die im weiteren Verlauf des Albums an Bedeutung gewinnenden Synthiestreicher vorweg nimmt, oder dem sich sofort im Ohr festbeißenden „Pills“, das von seinem einnehmenden Start aus eine ähnlich interessante Entwicklung nimmt.

Den größten Schritt wagt vermutlich der klar am Pop der Jahrtausendwende orientierte Titeltrack, der Freunde früher St. Vincent Alben endgültig abschütteln dürfte. Nach wie vor spielen Gitarren auf „Masseduction“ eine zentrale Rolle, sind aber zu keiner Zeit das Element, ohne das die Songs komplett in sich zusammenstürzen würden. Doch wie bereits auf dem Vorgänger ist sie es, die regelmäßig das synthetische Gerüst aufbricht, der Musik eine weitere Ebene verleiht oder, wie im erstaunlich brachialen „Fear The Future“, überhaupt erst den richtigen Ton für das Stück setzt. Platziert ist dieses übrigens hervorragend in der balladesken zweiten Hälfte der Platte, wo sich die tristen Vorahnungen aus „Los Ageless“ und „Pills“ zu handfester Melancholie bündeln.

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Diese drohte zu Beginn des Promotionzyklus ja noch, die gesamte Platte zu dominieren, als Clark sich in der Single „New York“ in großem Pathos an eine verlorene Geliebte richtete und den Verlust einer ganzen Stadt beklagte. Doch bereits das zugehörige Video relativierte diesen Ansatz mit satten Farben und surrealistischen Setpieces und schuf damit ein Spannungsverhältnis, das bestimmend für die gesamte zugehörige Platte ist. Neben den knallbunten, explosiven Songs stehen eben auch das wattierte „Happy Birthday, Johnny“, das Barjazz Finale „Smoking Section“ und „Slow Disco“, dessen Kombination aus Streichern und einfühlsamem Gesang gegen Ende durch ein digitales Pendant ersetzt wird.

Clarks Stimme ist an dieser Stelle kaum wiederzuerkennen, ein letzter Verweis darauf, dass hier nichts allzu wörtlich genommen werden sollte. Das wäre wohl der schlimmste Fehler, den ein St. Vincent Album begehen könnte: Ganz direkt zu werden, einen Song wie „New York“ einfach so stehen zu lassen, sich einfach auf das tolle, ausgefallene Gitarrenspiel zu verlassen oder tatsächlich stomlinienfömig Hit an Hit zu reihen. Mehr noch als der Vorgänger setzt „Masseduction“ auf permanente Abwechslung, auf Fragmentierung, ohne das Ganze beliebig erscheinen zu lassen oder den einzelnen musikalischen Ansätzen nicht gerecht zu werden. Besseren Artpop für das Jahr 2017 wird man kaum finden.

Masseduction erscheint am 13.10. via Loma Vista auf Vinyl, CD und digital.

Sebastian
Sebastian
Aus Saarbrücken, in Münster, immer auf Testspiel, manchmal auch hier: http://mordopolus.tumblr.com/

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