StartAlbum der WocheTim Hecker - Love Streams (Kritik)

Tim Hecker – Love Streams (Kritik)

Man kann nicht ewig weiter wachsen, expandieren. Tim Hecker haut seit jeher gerne Geräusche und Klänge kaputt, schmilzt die Trümmer ein und gießt daraus neue Gebilde. Das klingt nach Avantgarde, ist es aber eben nur so lange, wie es kein Zweiter macht. Nun kann man im Jahr 2016 nicht davon sprechen, dass unförmige Musik wie diese im Radio gespielt wird, doch alleine die breite, euphorische Rezeption, die im vergangenen Jahr Oneohtrix Point Nevers „Garden Of Delete“ wiederfuhr, verrät einiges über den Stand des Genres. Man muss sich folglich Mühe geben, wenn man nach wie vor vorne mitspielen möchte.

Mit „Virgins“ hatte Hecker 2013 ebenfalls ein wohlwollend aufgenommenes Album veröffentlicht, das in seiner finsteren Dichte jedoch vor allem nach einem einsamen Höhepunkt klang; rien ne va plus. Was macht man im Anschluss? Aufgeben, es übertreiben, den Karren an die Wand fahren? Hecker entschied sich dazu anzuhalten, mal rechts ran zu fahren, die Augen zu schließen, durchzuatmen und dann mit einer Flasche Rotwein und Blaubeeren zu betrachten, was man da eigentlich zusammengeschraubt hat. Und plötzlich: Alles lilablau.

Das Ergebnis dieses erkenntnisreichen Vorbeiziehenlassens ist „Love Streams“, ein Album, dass sich nicht an konventionellen Strukturen versucht und doch leichter klingt als sein Vorgänger. Das Cover deutet diesen verschwommenen, aber zugleich schönen Charakter bereits an, der sich in Stücken wie dem sensitiven „Up Red Bull Creek“ voll entfaltet. Musik wird hier in langsamen Bewegungen gedacht, nicht in der Verschiebung tektonischer Platten, die zwangsläufig zu Lärm führen muss. Erneut begab sich Hecker für die Aufnahmen in die Greenhouse Studios in Reykjavík, und tatsächlich klang das Ergebnis selten isländisch-harmonischer als in diesem Fall.

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Selbstredend gibt es trotz allem die bekannten Momente der Verstörung: „Castrati Strack“ gibt sich zu Beginn ordentlich geladen, während durch „Voice Crack“ eine vollkommen zerhackte Gitarre zuckt, die im Laufe des Songs jedoch feierliche Stimmen zur Ruhe betten. Tatsächlich waren Chöre laut Eigenaussage eine große Inspirationsquelle während der Arbeit an „Love Streams“, und man hört dem Ergebnis Heckers Begeisterung für sakralen Gesang durchaus positiv an, gerade weil er sie nicht zwanghaft in den Vordergrund stellt.

„Music Of The Air“ gibt sich etwa schwebend wie es der Titel verspricht, webt in seine wolkigen Synthesizer jedoch nahezu beiläufig, aber durchaus gewinnbringend, einige wabernde Gesangsfetzen ein. Daniel Lopatin hat auf den letzten beiden Oneohtrix Point Never Platten Ähnliches versucht, bei ihm mündete die Nutzung der menschlichen Stimme jedoch nicht selten in allzu aggressives Gehacke. Kollege Hecker gelingt die Zusammenführung von Rockinstrumentation, digitalen Sounds und Kirchenmusik des 15. Jahrhunderts deutlich schlüssiger, über das pulsierende Wimmern in „Violet Monumental I“ bis hin zur „Black Phase“.

Im Rahmen des letzten und längsten aktuellen Stücks beendet Hecker seine lilablaue Periode eindrucksvoll: Eine unheilverkündende Gitarre wabert durch statische Klanglandschaften, ein Chor skandiert dazu Unverständliches, und am Ende klingt alles aus, ohne dass Hecker dem Hörer die Chance zur Katharsis im Lärm lässt. Der Fluss versiegt einfach, der große Zusammenstoß bleibt aus. Ein genialer Schachzug, der das ohnehin hervorragend ineinandergreifende Album zur Möbiusschleife macht, die keine andere Wahl lässt, als die Platte wieder und wieder zu hören, sich zu verlieren und irgendwann am Wegesrand neben Hecker aufzuwachen, Rotwein und Blaubeeren zu naschen, nur um kurz darauf wieder in den einnehmenden Klängen unterzugehen.

8,3/10

„Love Streams“ erscheint am 08.04. via 4AD auf Platte, CD und digital.

Sebastian
Sebastian
Aus Saarbrücken, in Münster, immer auf Testspiel, manchmal auch hier: http://mordopolus.tumblr.com/

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