StartAlbum der WocheKate Tempest - Let Them Eat Chaos (Kritik)

Kate Tempest – Let Them Eat Chaos (Kritik)

Der gemeine Musikfreund ist rasch misstrauisch. Hat ein Singer/Songwriter Erfahrungen als Straßenmusiker, ist seine Musik dann nicht automatisch bemüht-authentisch? Kommt ein Punk aus Düsseldorf, müssen seine Gesten dann gleich so unangenehm nach Rock am Ring Hauptbühne riechen? Und veröffentlicht ein Rapper parallel zur aktuellen Platte die zugehörigen Lyrics als Gedichtband, mündet das Ganze dann automatisch in bohemen Quatsch? Nun, Kate Tempest stand auch vor ihrer derzeitigen Veröffentlichungspolitik nicht gerade im Verdacht, unambitionierte Musik zu machen, und bisher ging es noch immer gut. Grund zur vorschnellen Hyperventilationist also nur bedingt gegeben.

Bereits „Everybody Down“ wurde vor zwei Jahren von eindeutig-intellektuellen Indizien flankiert: Poetry Slammerin, Autorin von Kurzgeschichten (mittlerweile ist gar ein Roman namens „Worauf du dich verlassen kannst“ erhältlich), breiter britischer Akzent. Und ja, das zugehörige Album wollte nicht die Party anheizen, so wenig, wie „Let Them Eat Chaos“ auf WG-Feten und in Clubs zu hören sein wird. Erneut besetzt Tempest jedoch eine Lücke, die in den letzten Jahren zwischen Kanye Westschen Soundexperimenten, Drakeschen Popmomenten und der allgemeinen Hatz nach Memes und Punchlines beharrlich aufriss: Sie nutzt das Potential des Genres als Medium für gute Geschichten.

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Der Gedichtband ist also weniger arrogante Geste als Zugeständnis an den Hörer, der sich in Tempests Wortkaskaden und Personenarsenal erst mal orientieren muss. Erneut ist der Schauplatz Südlondon, erneut ist er bevölkert von Menschen mit Problemen, die sich eine Gemeinsamkeit teilen: Sie liegen zur gleichen Zeit in der gleichen Straße wach und fragen sich, ob es jemand anderem ebenso geht. Isolation, Einsamkeit und urbane Verzweiflung, diese Saat pflanzte Tempest bereits mit dem vergangenen November publizierten, düsteren „Europe Is Lost“, einem nervösen, vage von Dubstep-beeinflussten Stück, das auch musikalisch als Brücke zwischen beiden Alben fungiert.

Denn bei all dem Fokus auf Tempests Figuren und Worte darf man nicht vergessen, dass man ja noch gar nicht den Gedichtband, sondern primär das Album vor sich liegen hat, und auf dem gibt es auch Musik und vokalen Vortrag. Erstere entstand erneut in Zusammenarbeit mit Dan Carney, dieses Mal scheinen die Beats jedoch noch minimalistischer, unwirtlicher und oft erstaunlich maschinell. Gemeinsam ergeben sie ein kohärentes Bild, fließen oft ineinander und unterstreichen damit, wie eng hier auch textlich alles miteinander verknüpft ist, nicht zuletzt, da Tempest ja auch MC ist und als solche mit Flows und ähnlichem Krempel Verknüpfungen schaffen und Stimmungen erzeugen kann.

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Ihre technischen Kompetenzen kehren primär jene Songs heraus, die Knüppel zwischen die Beine werfen und sie ordentlich fordern. „Don’t Fall In“ ist so ein stolperndes Ding, das im Refrain auch noch von latent trashigen Synthie-Sounds heimgesucht wird. In „Whoops“ gerät Tempest so richtig in Rage, interagiert fabelhaft mit dem Beat und klingt dabei seltsam aus der Zeit gefallen. Gerade dieser Song, der einem Hit so nahe kommt wie sonst nichts auf dieser Platte, macht deutlich, wie eigen und einzigartig ihre durchdachte, bisweilen spröde Herangehensweise an Musik ist.

„Let Them Eat Chaos“ ist dabei so sehr von Konzept durchzogen, dass es sich gar nicht lohnt, das Label Konzeptalbum noch draufzukleben. Und gerade weil alles so verwinkelt gebaut ist, öffnet sich das Album erst Stück für Stück, gibt bei jedem Durchlauf eine neue Facette preis. Balladeskes Potential entblättert sich nicht aufrdringlich, sondern ruht in Form von „Pictures On A Screen“ einfach sehr schön hinter der stürmischen Mitte des Albums und wartet darauf, vom geduldigen Hörer gepflückt zu werden. Belohnt wird dieser spätestens am Ende von „Tunnel Vision“, wo es nach einem besonders dringlichen Vortrag Tempests eine Minute lang erstaunlichen Wohlklang zu bestaunen gibt. Ein klein wenig Kontemplation als Zuckerstück, um die gewichtigen Gedanken ein bisschen besser schlucken zu können. Am besten hilft dabei jedoch wiederholtes Durchkauen des gesamten Materials.

7,9/10

„Let Them Eat Chaos“ erscheint am 07.10. via Fiction/Caroline auf Platte, CD und digital.

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Sebastian
Sebastian
Aus Saarbrücken, in Münster, immer auf Testspiel, manchmal auch hier: http://mordopolus.tumblr.com/

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