StartMusikDortmunds große gemischte Tüte - Juicy Beats 2017

Dortmunds große gemischte Tüte – Juicy Beats 2017

Was jährlich an Genrevielfalt im Dortmunder Westfalenpark herrscht, sucht seinesgleichen. Testspiel hat sich dieses Jahr auf dem Juicy Beats einige der Festivalfrüchtchen zu Gemüte geführt.

Cro auf dem Juicy Beats © Anna Sellmann

Sicherlich war ich nicht der einzige Gast, der direkt am Sonntagmorgen die örtliche Notfallapotheke aufspüren musste. Denn wettertechnisch ging es ähnlich abwechslungsreich wie im Konzertprogramm zu und schwüle Hitze, Platzregenschauer sowie plötzliche Temperaturabstürze forderten das Immunsystem heraus.

In einem Fiebertraum durchlebte ich das Cro-Konzert vom Freitagabend dann tatsächlich noch einmal, jedoch aus der Perspektive eines Art Sicherheitsangestellten. Wie der Balljunge beim Tennis hockte ich stets zum Sprint bereit, am Hinterrand von Cros schwebender Bühne – sofort würde ich zur Hilfe eilen, sollte er ins Taumeln geraten und ein Absturz drohen.

Cro auf dem Juicy Beats © Anna Sellmann

Dass die Show so gut funktioniert, dass sie mich bis in den Schlaf verfolgt, hätte ich mir zuvor nie erträumt – Vorfreude sieht anders aus. Doch ob man nun will oder nicht: Man kennt die Songs von Cro – kleine Kinder trällern sie schon von ihren Dreirädern und das Radio bringt sie in Supermarktfilialen und Zahnarztpraxen.

Die Band übersetzt all die Charthits überzeugend in ein Live-Ereignis und Bühnenverkleidung, Lichteinsatz und Ablauf der Show bleiben als äußerst stilsicher im Gedächtnis. Tatsächlich erschließt sich Cros Coolness vor allem durch Zurückhaltung – keine kolossalen Projektionen oder Banner im Hintergrund, kein „Macht mal Lärm“.

Cro auf dem Juicy Beats © Anna Sellmann

Am zweiten Tag wirkt alles direkt abgenutzter – das gilt für durchzechte Besucher, die zahlreichen Rosensträucher, zwischen denen Abkürzungspfade etabliert wurden, und auch für das Personal. Wo ich gestern stand, darf ich heute nicht mehr sein: Im vorderen Zuschauerbereich. Ein „goldenes Bändchen“ würde hierfür fehlen – klingt ja wie ein Attribut aus einem Märchen. Und meine Tasche sei auch zu groß – aber die ist doch seit gestern nicht gewachsen. An sich ja kein Problem, wenn sich administrativ etwas verändert – jedoch bekommt man, ist man erst einmal mit der Pressestelle des Festivals in Kontakt getreten, körbeweise Promopost von selbiger. Warum dann nicht zur Abwechslung einmal eine kurze Email, die über organisatorische Neuigkeiten auf dem laufenden Festival aufklärt.

Maurice Ernst | Bilderbuch © Anna Sellmann

Vor Unverständnis wie ein Rumpelstilzchen um die Securities herumzutanzen bringt rein gar nichts – der Frust ist bei Bilderbuch dann aber auch schnell vergessen. Es ist höchst erfreulich, dass ihr sehr spezielles Album „Magic Life“ allgemein angenommen, ja sogar gefeiert wurde. Fraglich bleibt dabei, ob die „Massen“ sich der feinen Ironie (bzw. Überidentifizierung) in den Songs bewusst sind, ob das überhaupt wichtig ist oder eben gerade Bilderbuchs Verkennung als ein gewöhnlicher Mainstream-Act das Pop-Phänomen erst wirklich ausmacht. Auf den billigen Plätzen neben mir hat sich eine junge Schar uniformierten Fun-Shirt-Träger („ABInson Crueso – 12 Jahre warten auf Freitag“) lautstark darin reingesteigert, dass sie nicht leben können ohne „Frinks“.

Bilderbuch auf dem Juicy Beats © Anna Sellmann

Es fällt mir nur ein Festival in Deutschland ein, bei dem ähnlich viel gleichzeitig auf großer Fläche verteilt passiert: Die Fusion. Tatsächlich war auch das Juicy in seinen Anfängen 1996 für elektronische Musik bestimmt. Nach und nach nahm es am Wettbewerb der großen Sommerfestivals teil, fuhr einen zweiten Programmtag auf, legte sich eine Campingoption zu – im letzten Jahr waren dann gar 50.000 Gäste vor Ort.

2017 sprach man auf der Pressekonferenz von rund 39.000 Personen, die sich auf dem Gelände tummelten. Was da alles gleichzeitig auf sechs Bühnen und rund 20 weiteren kleinen House- und Technofloors stattfindet, ist ein regelrechter Wahnsinn. Bestenfalls kann man Vielfalt und Abwechslung in den Himmel loben, schlimmstenfalls einen inflationären Umgang mit Kunst und Künstlern kritisieren, ohne Skrupel vor einem Overkill – die große Mehrzahl nimmt das Dargebotene höchstens peripher wahr. In jedem Fall hat man durchweg die Freiheit „Nein“ zum Programm der beiden Mainstages zu sagen. Wem das Gedränge um einen ausreichenden Blick auf das Set von Alle Farben oder den Performances von SSIO und Trailerpark bitter aufstößt und wer wenig Interesse daran hat, sich nach den letzten Takten von einem langen Absperrband, dessen Enden jeweils von einem Ordnern gehalten werden, wie eine Kuh in einer Herde aus den Zuschauerbereichen treiben zu lassen, der bewege sich doch beispielsweise zur Liveurope Stage.

Joy Wellboy auf dem Juicy Beats © Julian Gerhard

Bezaubernde Indie-Acts wie Fenster, Joy Wellboy oder I Heart Sharks sind hier Programm, während im Auftrag der Dortmunder Hochschule permanent Wassereis verteilt wird. Der künstliche Sandstrand mit Bühnen-Blick lädt zusätzlich zum Verweilen (lies Versacken) ein und es ist durchweg so wenig los, als habe man innerhalb der Vorsaison gebucht.

Fenster auf dem Juicy Beats © Anna Sellmann

Nur einen Kilometer Luftlinie entfernt: Eine nicht enden wollende Abrissparty auf dem Baunz Trap Floor. Höhepunkt hierbei: Der Auftritt von Juicy Gay.

Juicy Gay auf dem Juicy Beats © Julian Gerhard

Nachdem jeder seine persönliche Festivalabschluss-Location gewählt hat, endet das allgemeine Live-Programm überall straight um 22 Uhr und die Menge bringt sich etwas unbeholfen in Bewegung. Man ist mehrheitlich auf der Suche nach den versprengten Stages, auf denen noch etwas House aufgelegt wird. Persönlicher Lieblingsmoment hierbei: Ein junger Mann ist augenscheinlich in der verwinkelten Flora des Westparks lost gegangen und gibt am Telefon folgende Koordinaten an seine Genossen weiter: „Ich stehe hier vor so einem Busch“.

Unterm Strich bleibt für mich zu sagen: Das Juicy Beats ist ein Festival der Gegensätze. Eines der fiesen Frittierbuden und der Stände für exotische Leckereien; Der sensationsgierigen, mit Promotiongeschenk-Plastiksonnenbrillen bestückten Schönwettergäste und der Musikliebhaber und hervorragend kuratierten kleinen Bühnen. Etwas, auf das man sich immer wieder freuen kann? Aber sowas von!

Julian Gerhard

I Heart Sharks auf dem Juicy Beats © Anna Sellmann
Julian Gerhard
Julian Gerhard
Wechselte 2013 für ein M.A.-Studium von Münster nach Bochum. Das Studium ist fertig und das Ruhrgebiet bildet den neuen Arbeits- und Lebensmittelpunkt.

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